Gemeinsam durch die Pandemie: Heute stehen unsere Freunde vom «HAVEN» im Fokus

Das ist unser 100. Newsletter! Seit unserer allerersten Nachricht vom 1. September 2012 haben wir viel erreicht. Wir hätten nicht zu träumen gewagt, dass wir wenige Jahre später die fehlenden Puzzleteile für die Schulbildung von der 1. Klasse bis zur abgeschlossenen Ausbildung für über 1’000 Kinder und Jugendliche finanzieren werden. Wir danken ganz herzlich allen Spenderinnen und Spendern, die diesen Erfolg ermöglicht haben.

Unsere Erfolge sind jedoch nur so stark wie unsere Partner. Und deshalb widmen wir unseren heutigen, ganz besonderen Newsletter, unseren langjährigen Schweizer Freunden Sara und Paul vom Restaurant HAVEN in Siem Reap. Im September haben wir darüber berichtet, dass vier Lernende aus unserem Programm im HAVEN ihre Ausbildung starten konnten, trotz der Pandemie!

Claudia kennt Sara und Paul seit 9 Jahren und ist in Kambodscha regelmässiger Gast im HAVEN. Hervorragendes Essen, herausragender Service und eine erstklassige Ausbildung für junge Kambodschanerinnen und Kambodschaner! Diese grossartige Arbeit, die so vielen Jugendlichen bessere Zukunftsaussichten ermöglicht, muss unbedingt weitergehen! 

Deshalb haben wir diesen Monat ein ganz besonderes Anliegen: 

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Die Spenden an ihren Trägerverein Dragonfly in der Schweiz sind steuerlich abzugsberechtigt. Ebenfalls fliessen die Spenden zu 100% dem Ausbildungsprogramm in Kambodscha zu. Die administrativen Kosten werden durch die Mitgliederbeiträge des Vereins gedeckt.

Wir haben Kontakt mit Sara und Paul aufgenommen. Sie haben uns eindrücklich geschildert, wie sie die vergangenen 18 Monate überstanden haben. 

Liebe Sara, lieber Paul. Wer seid ihr und was macht ihr in Kambodscha?
Wir sind die Gründer von HAVEN in Siem Reap, Kambodscha. HAVEN ist ein Ausbildungsrestaurant, das sozial benachteiligte Jugendliche aufnimmt und kostenlos eine Berufsausbildung in der Gastronomie ermöglicht und sie damit auf ein unabhängiges Leben vorbereitet. 
Seit der Gründung im Jahr 2011 haben wir über 100 junge Erwachsene aufgenommen (wovon über 90 die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen haben), im Bereich Kochen und Service ausgebildet und damit eine solide Grundlage für ihre künftige berufliche Laufbahn und persönliche Unabhängigkeit gelegt. Mit zusätzlichen Life Skills Trainings, dem Zusammenwohnen in unserem Lernendenhaus und dem Zugang zu Beratungs- und Therapiegesprächen fördern wir zusätzlich die persönliche und emotionale Entwicklung dieser jungen Menschen.
Nie hätten wir uns träumen lassen, dass wir unser 10-jähriges Jubiläum so still und unbemerkt in einem fast menschenleeren Siem Reap verbringen würden. Wiederum macht uns diese Tatsache aber auch stolz, denn ES GIBT HAVEN NOCH! Was in diesen Zeiten keine Selbstverständlichkeit ist.

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Wie hat sich Siem Reap verändert seit Covid-19?
Covid-19 hat Kambodscha in zwei Phasen überrumpelt und das Leben wie wir es kannten, komplett verändert. 
Die erste Covid-Phase begann mit dem weltweiten Ausbruch des Coronavirus im März 2020. Damals machte die kambodschanische Regierung sofort alle Grenzen dicht und konnte so ein Explodieren der Covid Fallzahlen verhindern. Dies hatte aber zur Folge, dass der Tourismus in Siem Reap von einem Tag auf den anderen zum Erliegen kam.
In Siem Reap ist fast jeder direkt oder indirekt abhängig vom Tourismus. Mit dem Ausbleiben des Tourismus ist das Einkommen von den Menschen hier komplett weggefallen. Viele Restaurants, Hotels und Touren-Anbieter mussten schliessen, Tuk-Tuk Fahrer hatten keine Gäste mehr und Bauern, Marktleute und Lieferanten konnten ihre Waren nicht mehr verkaufen. Anfangs dachten wir alle, das sei nur vorübergehend, doch inzwischen sind die meisten Geschäfte aufgelöst worden. Siem Reap hatte sich in eine Geisterstadt verwandelt. 
Nach dem anfänglichen Schock ging aber das Leben wieder irgendwie weiter. Die Menschen wagten sich langsam wieder raus und Siem Reap wurde ein beliebtes Reiseziel für die Bewohner von Phnom Penh, die über’s Wochenende zu uns fuhren. Die Zahlen waren natürlich nicht zu vergleichen mit dem üblichen Tourismus – aber es hatte wenigstens wieder ein paar Menschen hier.
Die zweite Covid-Phase begann im Februar 2021, als der Coronavirus in Kambodscha einschlug und sich rasend schnell verbreitete. Eine fast lähmende Situation, da die medizinische Versorgung hier nicht gewährleistet ist. Die Regierung meisterte die Situation so gut wie möglich und verhängte Lockdowns, Ausgangssperren, Alkoholverbot und ein Inland-Reiseverbot.
Wenn wir damals dachten, dass das Leben hart sei, so mussten wir bald erfahren, dass es noch viel härter werden konnte.
Die Inlandtouristen fielen weg, wir mussten fast wöchentlich unsere Öffnungszeiten ändern oder wieder ganz schliessen und dann wieder aufmachen. Die Kommunikation war schlecht, Regelungen unklar, die Unsicherheit gross. 

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Was hat sich für euch im HAVEN verändert seit Covid-19?
Vor Covid freuten wir uns über ein täglich ausgebuchtes Restaurant. An den Abenden haben wir die Tische gar 2-3-mal besetzt. Wir waren super busy, die Abläufe waren bis zur Perfektion einstudiert, die Qualität konnten wir konstant hochhalten und das fröhliche Brummen von einem vollen Restaurant war unsere tägliche Geräuschkulisse.
Dann kam Covid. Die kambodschanische Regierung riegelte die Grenzen ab, die Menschen blieben zu Hause und die Unsicherheit war gross. Wir schlossen die ersten drei Monate (März-Mai 2020), um die Situation zu beobachten und unser Team zu schützen. Wir schickten alle Lernenden, nach einer 10-tägigen Quarantäne im Lernendenhaus, zurück zu ihren Organisationen oder Familien und hofften, dass sich die Situation bald wieder erholt. 
Da sich die Situation weltweit verschärfte, die Zahlen in Kambodscha aber aufgrund der Grenzschliessung tief blieben, entschieden wir uns nach drei Monaten, im Juni 2020, HAVEN wieder zu öffnen. Wir wollten vor allem auch unsere Lernenden zurückholen, um sie so gut wie möglich weiter auszubilden. Je länger sie in ihren Dörfern blieben, desto grösser war die Gefahr, dass sie versuchen würden, illegal über die Grenze nach Thailand zu gehen, um dort Geld zu verdienen. Das war nur eines von vielen Risiken, welche die Not hervorbrachte, vor denen wir unsere Lernenden schützen wollten, indem wir sie wieder im Lernendenhaus und im HAVEN unter unserer Obhut nahmen.
Die Wiedereröffnung war allerdings eine grosse Ernüchterung. Während in der Schweiz und anderen westlichen Ländern die Menschen darauf warteten, dass Restaurants wieder öffnen und sie wieder auswärts essen und Freunde treffen konnten, wartete hier in Siem Reap niemand. Es waren ja keine Touristen mehr da. Und die Einheimischen (Khmer und Expats) waren direkt oder indirekt vom Einkommen durch den Tourismus abhängig und hatten somit selbst kein Geld mehr, um ausgehen zu können.
Zum ersten Mal seit der Eröffnung im 2011 blieb HAVEN leer.

Wie hat es sich auf die Lernenden und ihre Ausbildung ausgewirkt?
Unser Lehrjahr startet normalerweise anfangs September und dauert 12 Monate. Anschliessend gehen die Lernenden für weitere 4 Monate in ein Praktikum. Da die meisten Hotels nach der Grenzschliessung im März 2020 schlossen, war es nicht mehr möglich, Praktikumsstellen für unsere Lernenden zu finden. Nach Absprache mit unseren Lernenden und ihren Organisationen beschlossen wir, keinen Lehrabschluss im 2020 zu machen und das laufende Lehrjahr bis Ende Mai 2021 zu verlängern. Dies in der Hoffnung, dass sich bis dann die Lage verbessert und wir sie nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen müssen. 
Die Lage verbesserte sich allerdings nicht, sondern wurde noch schlechter (wie oben erwähnt in der zweiten Covid-Phase). Wieder setzten wir uns mit unseren Lernenden zusammen, um das weitere Vorgehen mit ihnen zu besprechen. Dabei stellten wir erfreut fest, wie stark viele von ihnen in dieser schweren Zeit gewachsen sind. Wie sie mit und von uns gelernt haben, das Beste aus der Situation zu machen und kreativ zu denken, um Lösungen zu finden. Die Hälfte der Truppe war bereit für den Abschluss und hatte bereits Ideen für ihre Zukunft (Studium an der Uni, biologischer Gemüseanbau zu Hause, etc.). 
Auch die andere Hälfte machte den Abschluss, aber sie waren noch nicht bereit, HAVEN zu verlassen. Diesen Lernenden boten wir an, dass sie als Praktikanten für 3 weitere Monate im HAVEN bleiben dürfen. In dieser Zeit schrieben wir mit ihnen CV’s und übten Vorstellungsgespräche, um sie auf die Jobsuche vorzubereiten. 
Aber die Lockdowns und andere Regierungsmassnahmen verschärften sich, noch mehr Betriebe schlossen (von den wenigen, die überhaupt noch offen waren) und die Moral der Bevölkerung sank. Es war kein Umfeld, in das wir diese jungen Leute entlassen wollten. Und so haben wir von den 13 Lernenden, die im Mai 2021 ihren Abschluss gemacht haben, die sieben, die ihre Zeit mit uns verlängert hatten, im HAVEN fest angestellt und werden sie hier beschäftigen, bis Kambodscha wieder Gäste empfangen kann und dafür Unterkünfte und Restaurants wieder eröffnen und professionelles Personal brauchen.

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Werdet ihr wieder Lernende aufnehmen und ausbilden?
HAVEN hat es sich zur Aufgabe gemacht, benachteiligten Jugendlichen durch eine qualitativ hochstehende Berufsausbildung eine Zukunft zu sichern. Darum sind wir hier und das ist das Herzstück unserer Arbeit. Darum würden wir HAVEN nie schliessen oder auch ‘nur als Restaurant’ betreiben. HAVEN ist ein Ausbildungsort und eine Zufluchtsstätte für benachteiligte junge Erwachsene, das gleichzeitig ein wunderschönes und leckeres Lokal ist für Gäste. Das eine gibt es für uns gar nicht ohne das andere. 
Genau deswegen haben wir beschlossen, jetzt wieder ein neues Lehrjahr zu starten. Geplant war September 2021, aber wegen erneutem Lockdown und mehreren Hürden, hat sich der Start auf Mitte Oktober verschoben. Aber wir haben’s geschafft! Es ist eine kleine Klasse dieses Jahr, mit nur acht Lernenden. Der Grund dafür ist unsere finanzielle Situation, aber auch die Tatsache, dass wir momentan für den praktischen Teil der Ausbildung nicht genug Gäste haben. 
Wir geben zu, wir waren ziemlich nervös über den neuen Start. Weil nichts so ist, wie es in den letzten 10 Jahren war. Wir mussten den gesamten Ausbildungsplan ändern, umschreiben, umplanen und teils neu erfinden. Aber wir sind auch stolz, dass wir das durchgezogen haben und unsere Herzen gingen auf, als die acht neuen Lernende ins Lernendenhaus eingezogen sind und am nächsten Tag, mit ihren neuen Uniformen, die Lehre antraten. 
Sie sind der Grund, dass wir hier sind und hier bleiben!

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Dieses Jahr ‘feiert’ ihr euer 10-jähriges Jubiläum. Wie habt ihr es, trotz Covid, bis hierhin geschafft?
Es war und ist immer noch eine grosse Herausforderung, dafür zu sorgen, dass ein Unternehmen und seine Mitarbeitenden diese Krise überleben. Diese Belastungen sind nicht zu unterschätzen. Wenn es also von aussen manchmal vielleicht leicht aussieht, so ist es doch alles andere als das.
Von der Regierung gab und gibt es keine Unterstützung. Weder für Betriebe noch für die Menschen, die ihre Jobs verloren haben. Im Gegenteil. Paul und ich fingen an Familien in unserem Umfeld mit unseren Ersparnissen zu helfen und dafür zu sorgen, dass Essen auf die Tische kam und für medizinische Versorgung gesorgt war.
Auch im HAVEN haben wir alles gegeben, um es über Wasser zu halten, weil wir immer noch 100% an unser Konzept glauben und auch davon überzeugt sind, dass der Tourismus irgendwann wieder zurückkommen wird. Und dann brauchen die Restaurants und Hotels in Siem Reap (und ganz Kambodscha) wieder professionelles Personal, das sich auf höchstem Niveau um die Gäste kümmern kann. Da kommen unsere Lehrabgänger dann zum Zug!
Wir mussten uns in den letzten 1.5 Jahren allerdings mehrmals ‘neu erfinden’, um weiter bestehen zu können. So haben wir neue Menüs kreiert, haben auch auf Takeaway und Delivery umstellt und wir sind eine Kooperation mit dem Café nebenan eingegangen (wir verkaufen ihren Kaffee bei uns und sie servieren unser Essen). Wir haben für eine Privatschule eine Kantine aufgebaut und diese seit Anfang 2021 geführt, was ein Zusatzeinkommen generiert hat. Paul hat an der lokalen Hotelfachschule als Dozent für Hygiene und Arbeitssicherheit angefangen, dessen Einkommen ebenfalls in die HAVEN Kasse floss.
Aber auch mit Überzeugung, Kreativität und viel, viel Arbeit schafft man es leider nicht durch diese Krise. Die Tatsache, dass es kaum Gäste gibt, solange die Grenzen geschlossen bleiben und unsere Einnahmen um 98% tiefer sind als vor Covid, verlangte externe Hilfe.
Hier kommt unser Dragonfly Verein in der Schweiz zum Einsatz. Als Covid-19 einschlug, hat das Team in der Schweiz sofort reagiert und ein Covid-Relief Plan erstellt und Sammelaktionen gestartet. Dank den grosszügigen Spenden von Freunden und ehemaligen Gästen und Menschen, die an unsere Arbeit glauben und unterstützen wollen, ist HAVEN heute überhaupt noch offen. Ohne diese Spenden während den letzten 1.5 Jahren, hätten wir die Ausbildung der Lernenden, die Unterkunft, Verpflegung und medizinische Versorgung der Lernenden, die Löhne, die Mieten und allgemeine Grundkosten nicht decken können. 
HAVEN wäre heute geschlossen ohne die Hilfe von so vielen lieben Menschen. Es gibt keine Worte, die ausdrücken können, wie dankbar wir für diese Unterstützung sind. Sowohl finanziell wie auch emotional! Denn nur schon zu wissen, dass da draussen Menschen sind, die an uns glauben und helfen wollen, gibt uns extrem viel Energie, immer weiterzumachen.

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Zum Schluss: Warum habt ihr nie eure Koffer gepackt und sind einfach wieder nach Hause?
Dieser Gedanke ging uns überhaupt nie durch den Kopf. 
Wenn wir jetzt darüber nachdenken, dann geben wir dir recht, es wäre sicher viel einfacher gewesen. Aber wir haben noch nie auf ‘einfach’ gesetzt. Wir haben in den letzten 10 Jahren unbeschreibliche Hürden überwinden müssen. Es gab auch vor Covid schon etliche Situationen, in denen wahrscheinlich viele andere den ‘Bettel hingeworfen’ hätten und wieder nach Hause gegangen wären. Aber wir haben weiter gemacht – lachend und weinend.
Denn mit HAVEN ging es nie um uns, sondern immer nur um die jungen Erwachsenen. Wir fragten uns nie, was wir wollen, sondern immer was SIE brauchen.
Unser Ziel war und ist immer, unseren Lernenden die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Erfahrung und das Selbstvertrauen zu vermitteln, die sie brauchen, um auf eigenen Füssen zu stehen.

Und das werden wir so lange tun, wie wir können.

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